Dossiers - Wettbewerbsfähigkeit
"Die Chancen der Digitalisierung aktiv nutzen"
Der diesjährige Jahresanlass des Wirtschaftsverbandes scienceindustries stand im Zeichen der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Das Thema wurde in einem Einführungsreferat von scienceindustries-Präsident Dr. Matthias Leuenberger, einem Keynote-Referat von Roche-Verwaltungsratspräsident Dr. Christoph Franz und an einem Podium thematisiert.
26.11.2021
Dr. Matthias Leuenberger, scienceindustries-Präsident, präsentierte den zum zweiten Mal von BAK Economics entwickelten «Global Industry Competitiveness Index» zur Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer chemisch-pharmazeutischen Industrie im internationalen Vergleich. Der Index zeigt die Stärken und die Schwächen der Schweiz als Pharmastandort auf. Als Stärken gelten die politische und die makroökonomische Stabilität. Als Schwächen müssen die Voraussetzungen, Risikokapital zu finden sowie die «Digital Readiness» erwähnt werden.
Die Digitalisierung stand auch im Mittelpunkt des anschliessenden Keynote-Referates von Dr. Christoph Franz, Präsident des Verwaltungsrates von F. Hoffmann-La Roche. Er wies darauf hin, dass lediglich 4% aller Patientinnen und Patienten an klinischen Studien teilnehmen und damit die Daten von 96% der Patientinnen und Patienten ungenutzt bleiben. Er plädierte dafür, dass wir die Chancen, die uns die Digitalisierung bietet, aktiv nutzen müssen. Er ist Co-Autor des Buches «Die digitale Pille», in welcher die potenziellen Kostenersparnisse der Digitalisierung für das Schweizer Gesundheitswesen auf nicht weniger als 8,2 Mrd. Fr. geschätzt werden.
Weshalb es mit der Digitalisierung in der Schweiz harzt, wurde im anschliessenden Podium besprochen, das von Heike Scholten, CEO Sensor Advice, geleitet wurde. Neben Dr. Christoph Franz diskutierten die Expertinnen und Experten Judith Bellaiche, Nationalrätin GLP und Geschäftsführerin Swico, Babette Sigg Frank, Präsidentin Schweizerisches Konsumentenforum kf sowie Adrian Schmid, Leiter Geschäftsstelle eHealth Suisse, wie es Politik, Gesellschaft und Wirtschaft schaffen, dass das elektronische Patientendossier erfolgreich Fuss fassen und wie das Vertrauen der Bevölkerung in dieses gestärkt werden kann.
Differenziertes Bild
Nationalrätin Judith Bellaiche zeichnete ein differenziertes Bild der aktuellen Situation in der Schweiz. «Bezüglich Digitalisierung geht es in gewissen Branchen vorwärts, beispielsweise auf dem Finanzplatz oder in der Maschinenindustrie. Die Verwaltung und das Gesundheitswesen hinken jedoch hinterher.» Verantwortlich dafür seien strukturelle, nicht technische Hürden, führte sie weiter aus.
Auch Adrian Schmid betonte, es gebe viele gute digitale Lösungen. Notwendig sei ein Kulturwandel. Es sei wichtig, dass sich die Protagonisten von ihren Eigeninteressen lösen und die Gesamtsicht in den Mittelpunkt rücken. Positiv erwähnte er das Kantonsspital Luzern oder das Inselspital Bern, die beide massiv in die Digitalisierung investieren.
Babette Sigg Frank erinnerte daran, dass in der Schweiz seit neun Jahren über das elektronische Patientendossier gesprochen wird. Die Patientinnen und Patienten wären selbstverständlich bereit, die vorhandenen Daten nutzen zu lassen. Die Erfassung der Daten, oft per Hand, sei dem jedoch nicht förderlich.
«Datenspenden ist das neue Blutspenden»
Judith Bellaiche ergänzte dazu, eine Dokumentenablage sei noch keine Digitalisierung. «Wir brauchen Datenstandards, um den ganzen Prozess unter Einbezug der Pharmaindustrie, von Ärzten und von Patienten neu zu gestalten.»
Heike Scholte erwähnte in diesem Zusammenhang die Aussage im Buch «Die digitale Pille», wonach Datenspenden das neue Blutspenden sei.
Dr. Christoph Franz wies auf den Weg hin, der in den USA gewählt wird. Dort werden die Leistungserbringer nur entschädigt, wenn die Kosten digital erfasst werden. Für ihn ist auch wichtig, dass für klinische Studien nicht einzig auf ausländische Daten zurückgegriffen werden muss, sondern die medizinischen Erkenntnisse im Land genutzt werden können. Das sich daran in der Schweiz kurzfristig etwas ändern wird, mag er allerdings nicht glauben. Er ist in dieser Hinsicht nicht sehr optimistisch.
«Corona-Krise als Weckruf»
Adrian Schmid ist etwas weniger pessimistisch und erinnert daran, dass das Parlament Druck macht. Die Corona-Krise so führte er aus, war ein Weckruf, der in der Verwaltung angekommen sei. Rechtliche Grundlagen und Anreize sind nun wichtig.
Dr. Christoph Franz plädierte auch dafür, den Kantönligeist zu überwinden. So sei es nicht verwerflich, wenn Daten von Appenzell nach Glarus fliessen. Es müsse nicht alles neu erfunden werden.
Babette Sigg Frank wünscht sich, dass in einem Patientendossier «alles drin ist», von der Geburt bis zum Tod.
«Noch nicht richtige Flughöhe»
Judith Bellaiche betonte, die Digitalisierung im Gesundheitsbereich biete Chancen für die Weltgesundheit und erwähnte in diesem Zusammenhang die gezielte Medizin und grundsätzlich ein schnelleres Tempo. «Wir haben enorme Chancen, aber noch nicht die richtige Flughöhe.» Fragen rund um den Datenschutz seien lösbar. Der Status quo, die Nicht-Digitalisierung, könne für die Innovation und die Startups zum Problem werden. «Die Pharmaindustrie ist auf die Innovationskraft dieser Startups angewiesen. Wenn wir in der Schweiz nicht die notwendigen Voraussetzungen bieten, werden diese ins Ausland gedrängt.»
Dem widersprach Dr. Christoph Franz nicht. Er erläuterte, das viele Kosten, die derzeit entstehen, durch die gezielte Nutzung der Daten vermieden werden können. Heute sei eine Therapie häufig trial and error. Mit gezielt auf die Patientinnen und Patienten zugeschnittenen Therapien könnten Zeit und Kosten gespart sowie die Qualität verbessert werden. Die Pharmaindustrie sei bereit für neue Zahlungsmodelle, indem diese vergütet werden, wenn eine positive Wirkung eintritt.
Dem Konzept «pay for performance» kann auch Babette Sigg Frank grosse Stücke abgewinnen. «Ich sehe in diesem Modell auch grosse Chancen.» Sie erwähnte in diesem Kontext Tumorerkennungsmodelle, wo der Computer jedem Arzt überlegen ist.
Was es braucht
Im abschliessenden Q&A wurde aus dem Plenum von kundiger Seite die entscheidende Frage gestellt: «Was braucht es denn wirklich, damit in der Schweiz bezüglich Digitalisierung im Gesundheitswesen etwas geht?»
Die Antworten auf die Frage gab zum Schluss nochmals interessante Ansätze. Adrian Schmid sieht die Notwendigkeit für die Anpassung der Tarifsysteme. Judith Bellaiche erkennt ebenfalls in der Koppelung der Datenstandardisierung an die Bezahlung der Leistungen einen Ansatz und plädierte für eine eigentliche Roadmap. Für Babette Sigg Frank ist wichtig, dass die Patientin und der Patient im Mittelpunkt bleiben. Und Dr. Christoph Franz betonte, dass die Industrie offen ist und Hand bietet für konkrete Lösungen. pd

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