Wirtschaftsverband Chemie Pharma Life Sciences

Dossiers - Beziehungen zur EU

Interview der NZZ: Matthias Leuenberger, Präsident scienceindustries

18.07.2023

«Unsere Firmen sind hier in gewissem Sinn gefangen. Sie können nicht einfach weg»

Die chemisch-pharmazeutische Industrie ist für den Wohlstand der Schweiz zentral. Was heisst es für sie, wenn die Gespräche mit der EU erneut scheitern? Matthias Leuenberger, Präsident von scienceindustries und Novartis Schweiz, nimmt in der NZZ Stellung.

Herr Leuenberger, letzte Woche hat der Bundesrat Eckwerte für neue Verhandlungen mit der EU beschlossen. Wie wichtig ist es für Novartis Schweiz und die gesamte Pharmabranche, dass die bilateralen Probleme gelöst werden?

Sehr wichtig. Für unsere Branche steht viel auf dem Spiel. Die Schweiz und vor allem der Standort Basel haben für uns in der Forschung, Entwicklung und Produktion seit je grosse Bedeutung. Damit das so bleibt, brauchen wir geregelte Beziehungen mit der EU – im Export, bei der Forschung und der Rekrutierung von Fachkräften. Das ist auch für die Schweizer Volkswirtschaft zentral. Man neigt hierzulande dazu, die Dimensionen aus den Augen zu verlieren. Die chemisch-pharmazeutische Industrie investiert in der Schweiz jährlich etwa gleich viel in Forschung und Entwicklung, wie sie an Umsatz erzielt, rund 7 Milliarden Franken. Auf sie entfällt fast die Hälfte aller Schweizer Exporte – über 134 Milliarden Franken. Über 90 Prozent von allem, was unsere Industrie hier herstellt, verkaufen wir in andere Länder. Die Rahmenbedingungen für Export und Forschung haben überragende Bedeutung, und hier spielt nun einmal die EU eine zentrale Rolle. Deshalb sind wir sehr froh, dass der Bundesrat vorwärtsmacht.

In den Gesprächen mit Brüssel stehen schwierige Themen wie der Lohnschutz oder die Souveränität zur Debatte. Weshalb soll sich die Schweiz darauf einlassen? Es geht uns doch gut oder jedenfalls besser als anderen Ländern in Europa.

Nun gut, wir reden hier über den Plan B. Plan A war einmal der Beitritt zum EWR, das hat nicht geklappt. Plan B ist der bilaterale Weg – und ein Plan C ist nicht in Sicht. Also sollten wir versuchen, Plan B, mit dem wir gute Erfahrungen gemacht haben, fortzusetzen. Man darf das nicht unterschätzen. Die Bedingungen für den Zugang zum EU-Markt sind matchentscheidend.

Der Anteil der EU-Staaten am Absatz der Branche nimmt laufend ab. Ist Europa wirklich noch so wichtig?

Klar, die Verkäufe in die USA und nach China haben stark zugenommen. Das ändert aber nichts daran, dass am Ende des Tages 48 Prozent der Exporte unserer Industrie in die EU gehen. Europa wird noch lange unser wichtigster Markt bleiben.

Was sind die konkreten Probleme, wenn keine Lösung mit der EU gelingt, wenn zum Beispiel das Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Produkten in einigen Jahren ausläuft?

Ganz einfach: Der Produktionsstandort Schweiz wird im Vergleich mit anderen Ländern auf einen Schlag teurer. Plötzlich müssen wieder mehrfache Kontrollen und Inspektionen stattfinden, die es heute nicht braucht. Die Folge sind unnötige Mehrkosten und Komplikationen. Das ist lästig, aber ich würde nicht sagen, dass es ein absolutes Killerkriterium ist. Die Mehrkosten für die gesamte Pharmabranche würden schätzungsweise 500 Millionen Franken im Jahr ausmachen. Gleichzeitig gibt es glücklicherweise Vereinfachungen mit anderen Ländern, seit kurzem etwa mit den USA. Unser Ziel ist, dass die Staaten ihre Kontrollen gegenseitig anerkennen. Aus diesem Grund müssen wir verhindern, dass wir die bisherige Vereinbarung mit der EU verlieren.

Aber wenn es kein «absolutes Killerkriterium» ist: Weshalb soll die Schweiz dann einen Deal mit der EU eingehen, bei dem sie viele Kröten schlucken muss?

Das ist eine kurzsichtige Optik. Die Pharmabranche ist gross, unsere Firmen haben Standorte auf der ganzen Welt. Sie können sich arrangieren. Das soll nicht heissen, dass sofort Produktionsstandorte in der Schweiz geschlossen werden, wenn wir keine Lösung mit der EU finden. Das wäre schon rechtlich gar nicht möglich, da hängen auch Lizenzen dran. Aber das sind schleichende Prozesse. Wir setzen uns dafür ein, dass die Schweiz innerhalb der Konzerne weiterhin einen hohen Stellenwert hat. Das ist nur mit guten Standortbedingungen möglich. Das sind wir gerade den relativ neuen Mitgliedern schuldig.

Wie meinen Sie das?

Viele Firmen sind in den letzten Jahren in die Schweiz gekommen, haben sich hier etabliert und in neue Werke investiert. Sie sind darauf angewiesen, dass die Rahmenbedingungen nicht verschlechtert werden. Sonst kommt aus der Zentrale irgendwann die Frage, ob die Schweiz noch der richtige Standort ist, gerade auch angesichts der hohen Personalkosten. Und Konzerne, die eine neue Niederlassung planen, werden sich erst recht überlegen, ob sie noch in die Schweiz kommen wollen. Diese Risiken sollten wir nicht eingehen. Wir haben so viel erreicht, in der Nordwestschweiz ist beispielsweise ein grossartiger Life-Science-Cluster entstanden, mit Pharmafirmen, Hochschulen, vielen Unternehmen und Startups. Damit er weiter gedeiht, müssen die Bedingungen stimmen.

Trotzdem: Wenn wir Sie richtig verstehen, wären die Folgen eines Scheiterns der Gespräche mit der EU für die Branche erträglich.

Was heisst schon erträglich? Wir haben ja keine Wahl – irgendwie müssten wir damit umgehen. Unsere Firmen, die in der Schweiz forschen, entwickeln und produzieren, sind in gewissem Sinne gefangen. Sie können nicht einfach weg, dazu haben sie zu viel investiert. Ich will auch nicht den Teufel an die Wand malen. Die Schweiz wäre nach wie vor ein guter Standort mit vielen Vorzügen. Aber der Vorsprung gegenüber anderen Ländern nähme ab. Diese Entwicklung hat bereits begonnen. Wenn keine Lösung mit der EU gelingt, wird man die Folgen nicht sofort spüren, sondern erst mittelfristig. Aber dann ist es zu spät, und gewisse Firmen werden sich möglicherweise anders organisiert haben.

Haben die Störungen in der bilateralen Beziehung bisher dazu geführt, dass sich weniger Firmen aus Ihrer Branche hier niederlassen?

Nein, wir haben weiterhin relativ viele Neuinvestitionen. Die Schweiz ist als Produktionsstandort nach wie vor attraktiv, trotz diesen Unsicherheiten. Unsere Branche kann mit solchen Problemen besser umgehen als andere, weil wir eine relativ hohe Wertschöpfung haben. Mit zusätzlichen Kosten können wir bis zu einem gewissen Grad leben. Schlimmer wäre, wenn wir nicht mehr die notwendigen Fachkräfte einstellen könnten, weil die Personenfreizügigkeit wegfallen würde.

Die Schweiz könnte immer noch so viele Fachkräfte ins Land holen, wie sie will. Wenn es wieder Kontingente gäbe, könnte sie diese beliebig hoch ansetzen.

Unsere Branche benötigt hochqualifiziertes Personal, das kann der Schweizer Arbeitsmarkt nicht alles decken. Das gilt besonders für die forschungsintensiven Firmen, deren Innovationskraft entscheidend auf Fachkräfte angewiesen ist. Zudem wird die demografische Entwicklung den Arbeitskräftemangel weiter verschärfen. Seit 2020 werden mehr Leute pensioniert, als neue Arbeitskräfte auf den Schweizer Arbeitsmarkt gelangen. Deshalb ist eine Kontingentierung wahrscheinlich sowieso obsolet.

Die EU hat die Schweiz in der Forschungskooperation Horizon zurückgestuft und will dies nur bei einer Einigung rückgängig machen. Hat das spürbare Folgen für Ihre Branche?

Wir hören aus den Hochschulen, dass es erste Fälle gab, in denen hochkarätige Wissenschafter wegen dieser Probleme nicht in die Schweiz gekommen sind. Auch das hat nicht unmittelbar schlimme Auswirkungen. Es ist immer dasselbe: Die Folgen kommen schleichend. Wenn unsere Hochschulen leiden, leidet irgendwann unsere Branche, dann leidet die Wertschöpfung, und der Wohlstand nimmt ab.

Ist die Schweiz bei der Forschung auf die EU angewiesen? Sie könnte vermehrt mit britischen oder amerikanischen Hochschulen kooperieren.

Man soll das eine tun und das andere nicht lassen. Aber machen wir uns nichts vor: Das Forschungsprogramm der EU ist weltweit das grösste und wichtigste. Es ist wohl auch kein Zufall, dass gerade die Briten alles unternommen haben, damit sie Ende Jahr wieder bei Horizon mitmachen können.

Eine grundsätzliche Frage: Täuscht der Eindruck, dass der politische Einfluss Ihrer Branche in der Schweiz nicht proportional ist zu ihrer wirtschaftlichen Bedeutung? Andere Kräfte wie der Bauern- oder der Gewerbeverband, die gerade im EU-Dossier deutlich defensiver sind, haben mehr Schlagkraft.

Das sehe ich genau gleich. Und ja, das ist manchmal frustrierend. Aber man muss unterscheiden, der Bundesrat und die Verwaltungen, mit denen wir zu tun haben, wissen ganz genau, was auf dem Spiel steht. Im Parlament ist das leider nicht bei allen so. Aber wir arbeiten daran. Immerhin trägt die pharmazeutische Industrie inzwischen insgesamt rund 9 Prozent zur gesamten Wertschöpfung in der Schweiz bei. Das ist schon recht viel.

Man könnte von einem Klumpenrisiko sprechen . . .

. . . ich würde sagen, das ist eine Klumpenopportunität. Der Gesundheitsmarkt wird weltweit weiterwachsen, nur schon, weil wir immer älter werden. Wenn wir es schaffen, dass die Pharmabranche in der Schweiz führend bleibt, können wir unseren Wohlstand auf Jahrzehnte hinaus sichern.

Die EU hat in Bereichen wie Forschung oder Strom Schritte gegen die Schweiz unternommen, mit denen sie sich auch selbst schadet. Müssen Sie nicht manchmal den Kopf schütteln über solches Verhalten?

Sagen wir es so: Es ist wichtig, dass wir uns in Europa – und da gehört die Schweiz auch dazu – nicht auseinanderdividieren lassen. Der Krieg in der Ukraine sollte dazu führen, dass diese Einsicht wächst. Dann wird hoffentlich die EU auch mit uns etwas offener und pragmatischer umgehen. Dasselbe gilt aber auch für die Schweiz. Der Bundesrat kann das nicht alleine regeln, alle müssen ihren Beitrag leisten, auch die Gewerkschaften und die Mitteparteien, die sich klar positionieren sollten. Ich verstehe, dass sie sich vor den Wahlen nicht exponieren wollen. Aber wir erwarten, dass es nachher schnell vorwärtsgeht.

Politisch spielt der Lohnschutz eine zentrale Rolle. Der Bundesrat erwägt autonome Eingriffe im Arbeitsmarkt, um die Gewerkschaften an Bord zu holen. Ein Thema ist die Ausweitung von Gesamtarbeitsverträgen (GAV). Würden Sie einen solchen Schritt unterstützen, um eine Lösung zu ermöglichen?

Wir haben in unserer Branche, die ja nicht als Tieflohnbranche bekannt ist, eine gut eingespielte Sozialpartnerschaft mit internen Personalvertretungen in den Unternehmen. Das funktioniert sehr gut. Es gibt vereinzelt Bereiche mit GAV, vor allem in der Produktion, auch das läuft gut. Wir haben praktisch keine Unstimmigkeiten. Ich sehe deshalb nicht, weshalb sich da etwas ändern sollte.

Offensichtlich wollen die Gewerkschaften das EU-Dossier nutzen, um ihren Einfluss auszubauen und in Branchen Fuss zu fassen, zu denen sie bis anhin schwer Zugang haben. Zum Beispiel in der Pharmabranche. Würden Sie diesen Preis bezahlen, damit ein politisch tragfähiger Deal gelingt?

Ich denke nicht, dass unsere Branche im Fokus steht. Es gibt keine solchen Anzeichen. Deshalb stellt sich diese Frage nicht.

Finden Sie, andere Branchen müssten diesen Preis bezahlen?

Diese Frage kommt zu früh. Wir wissen noch zu wenig. Klar ist, dass der Lohnschutz auf heutigem Niveau gesichert werden muss. Es gibt Signale, dass unsere Unterhändler dieses Ziel in den Gesprächen mit der EU weitgehend erreichen. In diesem Fall braucht es darüber hinaus keine grossen Konzessionen an die Gewerkschaften. Aber natürlich ist auch mir klar, dass sich alle Seiten bewegen müssen: die EU, die Gewerkschaften – und vielleicht auch die Arbeitgeber, falls das nötig ist.

Nicht nur links gibt es Skeptiker, sondern auch rechts. Einzelne Exponenten aus der Wirtschaft sind fundamental gegen eine dynamische Rechtsübernahme und eine Streitschlichtung unter Einbezug des Europäischen Gerichtshofs. Was entgegnen Sie ihnen?

Ich orientiere mich an den Kantonsregierungen, die diese Fragen analysiert haben. Sie sind bereit, diese Konzessionen zu machen, damit die Schweiz und die EU den bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln können. In den Bereichen, in denen wir EU-Recht übernehmen, um ungehinderten Zugang zu ihrem Markt zu haben, kommen wir kaum umhin, die Rechtsauslegung des Europäischen Gerichtshofs anzuerkennen. Sollte es tatsächlich einmal Streitigkeiten geben, werden sie in den allermeisten Fällen technische Fragen betreffen, die politisch kaum relevant sind. In den wenigen heiklen Bereichen brauchen wir verbindliche Garantien, das sollte auch die EU verstehen.

Voraussichtlich gibt es weitere Verzögerungen, weil der Bundesrat vor den Wahlen kein Mandat verabschieden will. Ist das schlimm?

(Verwirft die Hände) Es ist halt so. Gut ist es sicher nicht, aber wir müssen damit umgehen. Unsere Erwartung ist, dass die EU guten Willen zeigt und die Schweiz bei Horizon Europe wieder voll mitmachen lässt, sobald die Verhandlungen beginnen.


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